Gedanken zum
Klavierunterricht
Vorweg
Freilich ist es kaum möglich die vielen verschiedenen Aspekte des Instrumentalunterrichts in einem kurzen Text ausgiebig zu erörtern. Der ständige Prozess aus geistiger Reflexion und künstlerischer Freiheit in unserer Beschäftigung mit Musik ist so komplex, individuell und langfristig angelegt, daß selbst das ausführlichste Referat dem Ganzen nicht wirklich gerecht werden könnte. Die folgenden Zeilen sollen also vielmehr eine Skizze sein, sollen einige persönliche Gedanken aufzeigen, lediglich einen Einblick gewähren.
Musik vermitteln
Höchste Priorität hat für mich immer das Künstlerische, das was zwischen den Noten ist. Harmonie, Melodie, Rhythmus… – Phrasierung, Artikulation, Stil… alles steht in Zusammenhang mit dem, was uns in jeder Hinsicht bewegt, vor allem innerlich, seelisch – aber natürlich auch körperlich.
Eine Interpretation sollte gewissermaßen Sinn machen, also „psycho-logisch“ sein. Bleiben die emotionalen Aspekte unreflektiert oder fallen unkontrolliert auseinander, kann das Ganze entsprechend „psycho-unlogisch“ erscheinen. Selbstverständlich spielen auch Kontraste und Brüche eine entscheidende Rolle – in der Kunst so wie im Leben. Je nach Situation müssen wir also unbedingt bewusst in die Musik und in uns selbst hinein spüren.
Bereits auf der elementarsten Stufe der Vermittlung ist es nachzuvollziehen, daß musikalische Erscheinungen „Charaktere“ darstellen können. Wie Menschen sind sie bald lustig, bald nachdenklich, mal traurig, launig oder auch mal wütend. Natürlich können auch andere synästhetische Assoziationen verknüpft werden – Licht, Farbe, Haptik, ja sogar Geschmack und Geruch. Manchmal erleben wir auch „schlicht“ den Reiz der Algorithmen in ihrer musterhaften Verschiebung oder in einer Art repetitiver Meditation.
Für mich als Pädagoge sehe ich es als hehre Pflicht, die Pforten der Imagination zu öffnen und gemeinsam mit meinen SchülerInnen in die innere Welt der Fantasie aufzubrechen, all diese Wesenszüge der Musik bewusst zu erfühlen und zu erforschen.
Es ist mir außerdem überaus wichtig, keine sturen Grenzen zwischen Klassik, Jazz, Rock und Pop, ernster und unterhaltender Musik zu ziehen. Vielmehr besteht für mich die Qualität einer komponierten Musik darin, daß sie immer wieder neue Erfahrungen offenbaren kann, selbst wenn man sie das hundertste Mal erlebt. Ganz persönlich finde ich Transzendenz bei Bach, Beethoven, David Grohl, Schumann, Coldplay, Brahms, David Bowie, Mahler, Schönberg, Peter Kruder, Matthew Herbert, Messiaen, Ligeti und nicht zuletzt bei Jacob Collier… – und für die lange Liste bitte ich um Verzeihung, aber sie ist bei weitem (!!!) noch nicht vollständig.
Vorläufig abschließend bleibt in diesem Kapitel noch zu erwähnen, daß ich meine Schülerinnen und Studenten regelmäßig ermutige zu improvisieren. Die Freuden, sich selbst mit neuen musikalischen Gedanken in der Fantasie und am Instrument auszuprobieren, bleiben heute im institutionellen Instrumentalunterricht viel zu oft unentdeckt…
Die sogenannte Technik
Statt Technik benutze ich lieber den Begriff Motorik im Sinne einer Gesamtheit der Skelettmuskulatur. Dementsprechend spielt selbstverständlich nicht nur die Hand im Zusammenspiel mit dem Arm eine Rolle sondern auch die Atmung und die ganzheitliche Körperhaltung. Nicht selten kommt es deshalb vor, daß wir uns in der Klavierstunde einige Zeit mit
Balanceübungen beschäftigen, um Verspannungen auf die Spur zu gehen. Im Fokus stehen also zwei Aspekte: Ganzheit (Arm/Körper) und Feinmotorik (Finger/Hand). Daraus ergibt sich ein ständiges Differenzieren und Integrieren.
Die grundsolide Basis für eine instrumentale Virtuosität ist aber zweifelsohne die Feinmotorik. Deshalb steht oft die Fingerarbeit im Vordergrund. Der Arm als Ganzheit (sehr wohl fein differenziert in seine Abschnitte Handgelenk, Ellenbogen, Schulter) hilft dann jeweils den Fingern bei der optimalen Ausführung ihrer Aufgaben.
Gerne vergleiche ich das System mit einer idealen föderalen Demokratie, in der die Bürger (Finger), so verschieden sie auch sind, selbstverantwortlich ihre Pflichten übernehmen. Die Kommune (Handgelenk) ermöglicht unmittelbar gewisse Unwägbarkeiten auszubalancieren, während der Unterarm samt Ellenbogen (Land) dem Handgelenk zuspielen und der Oberarm (Staat) dafür sorgt, daß das ganze System getragen wird. Die Schulter und der Rest des Körpers sollten sich dabei keineswegs unnötig verspannen. Es braucht viel Geduld und bedarf einigen Fingerspitzengefühls an den vielen Stellschrauben, bis manche motorischen Hürden überwunden sind. Bei der Entwicklung dieser Fähigkeiten können nur alle Seiten zusammen spielen. Auch die SchülerInnen müssen natürlich bereit sein, den Weg durch regelmäßiges bewusstes Üben anzugehen. Die Muskulatur braucht wiederum Zeit zu wachsen, ebenso dauert es, bis die Feinmotorik sich auf die neuronalen Netze im (Klein-)Hirn verlassen kann. Wie etwa beim freihändigen Fahrradfahren oder Schnürsenkelbinden vergehen, je nach Schwierigkeitsgrad des Werkes, Tage bis Monate.
Sehr oft ziehe ich hier den Vergleich zur Gärtnerei: Es braucht tägliche Pflege, gezieltes Bewässern, behutsames Düngen, Licht, Luft und viel Zuneigung, um sich irgendwann prächtiger Blüten und Früchte zu erfreuen. Nichts wächst schneller, wenn man daran zieht – und große Bäume brauchen eben lange zu wachsen!
PS: Auf YouTube findet man viele Videos zum Thema. Ich rate persönlich sehr davon ab, dort ein „Rezept“ in punkto Klaviertechnik zu suchen. Es gibt so viele individuelle motorische Voraussetzungen wie es Menschen gibt. Einige grundsätzliche Punkte sind sicher im Allgemeinen festzuhalten, aber an der Klaviertechnik muss stets im lebendigen Unterricht gearbeitet werden.
Die Atmosphäre
Zunächst zum vermeintlich Äußeren: Die Ausstattung meines Studios ist mir sehr wichtig. Tief in Erinnerung bleibt mir ein 5-jähriges Kind, das Angst hatte vor dem dunklen und staubigen Schulraum, in dem ich einst für die Musikschule… sagen wir in Musterstadt unterrichten sollte. Der Weg in diesen grauen, traurigen Raum führte durch einen noch dunkleren Gangflur am Ende des Gebäudes und war selbst mir im November unheimlich mit seinen halb offen stehenden
Spinden, aus denen für ein fantasiebegabtes Kind jederzeit die bösen Geister hätten fliehen können.
Ich werde auch nie vergessen, wie fröhlich dieses Mädchen plötzlich am Klavierunterricht teilgenommen hat, als wir in einen wesentlich schöneren und helleren Raum umgezogen sind! Nicht zuletzt deshalb lege ich großen Wert auf eine wohnliche Umgebung. Auch die Temperatur des Lichtes spielt eine Rolle – unter der Deckenbestrahlung eines Kreiskrankenhauses kann ich nicht an Klangfarben arbeiten!
Des Weiteren steht zwar selbstverständlich die Arbeit an der Musik im absoluten Vordergrund, allerdings spielen auch außermusikalsiche Themen regelmäßig in den Unterricht mit hinein – von Dürers Feldhase über Eichendorffs Lyrik etwa – bis hin zur Schräglenkerachse, wenn es um Kinematik und Motorik geht. Smartphones und Tablets helfen uns selbstverständlich dabei, komplizierte Sachverhalte anschaulicher zu verstehen und die verschiedensten Hilfsmittel machen
den Unterricht zum begreifbaren Erlebnis. So darf ein Model der Flügelmechanik nicht fehlen, an der wir verstehen, wie wir überhaupt den Klang erzeugen. Ein Kugelstoßpendel veranschaulicht dann vereinfacht das Prinzip der Impulsübertragung, aber auch ein kleines Model des Möbiusbandes und ein schlichtes Einmachglas-Gummiband gehören zu den Utensilien, die den Klavierunterricht lebendig machen.
Wenn es jedoch um die Detailarbeit am Instrument selbst geht, kann die gemeinsame Arbeit enorm akribisch werden. Ja, ich fordere viel, aber achte gleichzeitig darauf nicht zu überfordern, sondern immer den Gedanken des Förderns im Fokus zu behalten. Wie gesagt: Nichts wächst schneller, wenn man daran zieht! Andererseits wächst auch wiederum nicht viel Wertbares, wenn wir dem Wildwuchs freien Lauf lassen uns nicht um den fruchtbaren Boden und die Pflanzen kümmern.
Wenn sich Hindernisse auftun, rate ich selbstverständlich nicht dazu sie zu umgehen. Mein Motto lautet dann vielmehr: Lass uns das gemeinsam angehen! Du kannst das schaffen, ich helfe Dir dabei! Äußere wie auch innere Widerstände sollten uns idealerweise stärker machen, indem wir lernen sie zu überwinden. – Und, falls wir es doch einmal nicht schaffen sollten, so ist das in jedem Fall menschlich. Auch das Scheitern will gelernt sein. Sicher gibt es eine nächste Aufgabe, an der wir uns wieder aufrichten und unser Selbstbewusstsein stärken können – mit einer der wertvollsten Grundlagen für unser Selbstwertgefühl schlechthin: Selbst erbrachter Leistung aus dem ureigensten Inneren heraus!
Alle meine SchülerInnen wissen außerdem, daß sie offen mit mir über Probleme sprechen können. Auch Themen und Probleme der Zeit werden im Klavierunterricht diskutiert. Vorurteile und Klischees haben dabei keinen Platz. Bildung bedeutet für mich auch immer eine gemeinschaftliche Übung der Mündigkeit. Besonders als Musiker sind wir in der ganzen Welt zu Hause, urteilen möglichst nicht reflexartig, sondern bemühen uns um Reflexion – bewerten Menschen nicht nach Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder individueller Zuneigung, sondern vielmehr nach ihren Taten und Werken.
Letztendlich suchen wir uns einerseits selbst besser zu verstehen und im gegegenseiteigen Verständnis finden wir schließlich ein höheres Gefühl der Heimat.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, daß mein Unterrichtsstil dahingehend orientiert ist, persönlich und individuell aufeinander einzugehen. Die künstlerische Entwicklung hängt unmittelbar mit der persönlichen zusammen. Umgekehrt hängt auch das persönliche Glück von der richtigen Berufswahl ab. Daher neige ich dazu, realistische Empfehlungen auszusprechen, wenn es um die Entscheidung des Studienfaches geht. Schon viele junge Menschen haben erst im Verlauf ihres Instrumentalstudiums oder gar noch später erkannt, daß Träume und Erwartungen nicht kongruent sind mit der Wirklichkeit des Berufsbildes.
Meiner Ansicht nach ist es vernünftig, rechtzeitig daran zu erinnern, daß der Musikbetrieb kein Wunderland ist.
Ob wir im Erwachsenenleben als Musikerin oder aber auch als Germanist, Jurist, Ärztin oder Ingenieurin erfolgreich werden… – Die Musik verlässt uns nie, bleibt uns immer treu. Sie wächst in uns weiter, begleitet uns ein Leben lang. Und das, was wir beim Üben und Musizieren gelernt haben, werden wir niemals verlieren – ganz im Gegenteil, es wird immer in und für uns leuchten!!